Nutze Metakognition

Dass unser letzter Tipp genau dieses Thema behandelt ist beinahe ein Zufall, denn wie ihr wisst, haben wir uns bei unserer Artikelreihe an einem Paper aus Medical Teacher orientiert. Vielleicht aber haben die Autoren diesen Tipp aber auch ganz bewusst ans Ende gelegt, denn er handelt von einem Thema, das von der Vogelperspektive lebt: Metakognition. 

Um es etwas besser zu verstehen, muss man zunächst einen Schritt zurückgehen und überlegen, was Kognition ist und was sie mit Lernen zu tun hat. Kognition wird oftmals sehr frei mit “Denken” übersetzt. In der Psychologie beziehungsweise den Kognitionswissenschaften werden mit dem Begriff allerdings zahlreiche weitere Funktionen des menschlichen Gehirns beschrieben. 

Es geht nicht nur um das “bloße Denken” oder “Nachdenken”, sondern unter anderem um Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Problemlösefähigkeiten, Handlungsplanung, Selbstreflektion und kreative Prozesse. Es handelt sich bei Kognition also um Informationsverarbeitung auf ganz verschiedenen Ebenen. Und die Metakognition ist das “Nachdenken über das Nachdenken” oder noch genauer: Die Informationsverarbeitung darüber, wie wir Informationen verarbeiten.

In der Pädagogik umfasst Metakognition unter anderem das Nachdenken über den eigenen Lernprozess:

  • Nähern wir uns einem Thema richtig? 
  • Welche Grundannahmen treffen wir als Lernende, wenn wir ein Thema in unsere geistigen Schubladen sortieren? 
  • Welches Vorwissen wird dabei aktiviert? 
  • Und welchen Einfluss hat dieses Vorwissen auf unseren Lernprozess? 

Die zwei Dimensionen von Metakognition

Der Entwicklungspsychologe John H. Flavell unterscheidet zwei Dimensionen der Metakognition:

  • Metakognitives Wissen (metacognitive knowledge) als deklarativen (beschreibenden, “know what”) Anteil und
  • Metakognitive Überwachung und Selbstregulierung (metacognitive monitoring and self-regulation) als exekutiven (ausführenden, “know how”) Anteil.

Metakognitives Wissen umfasst vier Unterdimensionen:

  • Personenbezogenes Wissen: Wissen, das man über die eigenen kognitiven Prozesse hat
  • Aufgabenbezogenes Wissen: Wissen darüber, wie Aufgaben beschaffen sind
  • Strategisches Wissen: Wissen zur Beurteilung von Lösungswegen
  • Metakognitiven Empfindungen: Beurteilung, dass etwas schwer zu beurteilen sein könnte

Metakognitive Überwachung bzw. Selbstregulation umfasst zwei Unterdimensionen:

  • Metakognitive Steuerung: Alle Aktivitäten bei der metakognitiven Betrachtung einer Aufgabe.
  • Metakognitive Kontrolle: Kontrollinstanz der metakognitiven Steuerung.

Durch John D. Teasdale wurde eine dritte Dimension vorgeschlagen: Das metakognitive Verständnis (metakognitive insight). Es umfasst die Fähigkeit, die eigenen Gedanken als Gedanken (konstruiertes Modell der Realität) und nicht als Realität selbst zu begreifen.

In der deutschen Wikipedia gibt es einen wirklich tollen Absatz zum Zusammenwirken dieser Prozesse. Es geht darin um eine Studie, in der die Autoren beschreiben, welche metakognitiven Dimensionen und Techniken Experten beim Lesen eines Fachartikels anwenden:

“[Der Experte] antizipiert Informationen der nächsten Textabschnitte (aufgabenbezogenes Wissen), er konzentriert sich auf subjektive relevante Ausschnitte (Wissen über die eigene Person), springt im Text vor und zurück, wechselt mehrmals zwischen Abbildungen und Text, liest besonders relevante oder unklare Aussagen mehrmals (Wissen über kognitive Strategien), paraphrasiert und fasst schließlich die wesentlichen Gedanken zusammen (metakognitive Kontrollprozesse). Darüber hinaus berichten die Experten, dass sie während des Lesens laufend die Schwierigkeit wie auch die Informationshaltigkeit des Textes bewerten (Wissen über Aufgabencharakteristika). Zudem treten emotionale Reaktionen wie Ärger, Interesse und Langeweile auf und werden registriert (metakognitive Empfindungen).”

Die genannte Studie könnt Ihr hier finden:

Wyatt, D., Pressley, M., El-Dinary, P. B., Stein, S., Evabs, P. & Brown, R. Comprehension strategies, worth and credibility monitoring, and evaluations: Cold and hot cognition when experts read professional articles that are important to them. Learning and Individual Differences, 1993, 5, 49–72.

Die Kunst beim Umgang mit Metakognition in der Lehre ist es nun, den Lernenden diese Dimensionen und Techniken zugänglich zu machen.

Der steinige Weg zur Metakognition

Der Bildungswissenschaftler David N. Perkins beschreibt vier Stufen, auf denen Lernende sich beim Erwerb von Metakognition befinden können. Leider sind die Übersetzungen ins Deutsche ein wenig uneinheitlich, so dass wir sie nur in Klammern hinter die englischen Begriffe schreiben, aber die im Verlauf weiter die englischen nutzen werden:

  • Tacit Learner (Impliziter Lerner): Metakognitive Fähigkeiten können implizit vorhanden sein, werden vom Lernenden aber nicht bewusst reflektiert. Auch sind keine expliziten Lernstrategien vorhanden.
  • Aware Learner (Bewusster Lerner): Die eigenen Fähigkeiten sind bekannt und eine grobe Lernstrategie ist vorhanden. Diese wird aber nicht metakognitiv reflektiert.
  • Strategic Learner (Strategischer Lerner): Es sind sehr ausgeprägte Lernstrategien vorhanden, allerdings werden sie nicht regelmäßig metakognitiv reflektiert.
  • Reflective Learner (Reflektierender Lerner): Es sind sowohl Strategien als auch eine ausgeprägte Reflexionsfähigkeit vorhanden. Der Lernende durchläuft einen effizienten Bewertungszyklus seines Vorgehens.

Hier einige Beispiele für die vier Stufen:

  • Tacit Learner

Ein angehender Fachkrankenpfleger stellt die Parameter am Beatmungsgerät korrekt ein, kann aber nicht erklären, wieso er sie ausgewählt hat.

  • Aware Learner

Eine Ärztin in Weiterbildung stellt fest, dass Ihr das Legen von arteriellen Zugängen häufig misslingt, sie schafft es aber nicht, sich eine passende Strategie zum Erwerb dieser Fähigkeit zurechtzulegen.

  • Strategic Learner

In einem Debriefing eines Simulationsszenarios stellt eine Notfallsanitäterin fest, dass sie sich für eine Immobilisation des Simulationspatienten hätte entscheiden sollen. Sie kann ihre Selbstkritik fachlich gut begründen (Was war fehlerhaft?), kennt aber den Grund für ihren Fehler nicht (Warum habe ich so gehandelt?).

  • Reflective Learner

Einige Monate später ist die selbe Kursteilnehmerin in der Lage, zu begründen, wieso sie bestimmte Handlungen im Szenario vorgenommen hat.

Es ist daher eines der Ziele guter Lehrangebote, den Teilnehmenden zu ermöglichen, ihre metakognitiven Fähigkeiten zu entwickeln. Zwar wird es immer Menschen geben, denen dies leichter fällt als anderen, allerdings ist grundsätzlich jeder in der Lage, sich in diesem Bereich mit gezielter Unterstützung zu verbessern.

Die eigene Position als Sprecher bestimmen und “laut Denken”

Vor allem in der rettungsdienstlichen Ausbildung passiert es oft, dass Menschen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen zusammenkommen. So könnte eine Kursteilnehmerin die letzten zehn Jahre bei der Bundeswehr gearbeutet und dort eine Denkstruktur entwickelt haben, die nützlich für Soldatinnen ist. Neue Lerninhalte wird sie in diese Denkstruktur integrieren. Eine andere Teilnehmerin, die jahrelang bei der Freiwilligen Feuerwehr war, hat ein anderes Denkmuster. Sie wird neues Wissen in ihr bestehendes Erfahrungsnetz integrieren. Ähnliches gilt für einen Teilnehmer, der zuvor als Sozialarbeiter tätig war und sich nun beruflich umorientieren möchte. 

Alle diese Lernenden haben eine andere Perspektive auf die unterschiedlichen Themenfelder. Während ihrer schulischen Ausbildung und ihres praktischen Einsatzes werden sie auch weiterhin verschiedene Eindrücke sammeln, die bestimmte Schubladen in ihren Köpfen öffnen und schließen. D.h. nicht, dass diese Kollegen in ihren bisherigen Denkmustern gefangen sind. Ganz im Gegenteil: Jeder von uns kann neue Perspektiven übernehmen, aber wir alle verlassen uns auf unsere Erfahrung und diese Erfahrungen prägen unsere kognitiven Prozesse. Metakognition kann dabei helfen, darüber nachzudenken, wie wir zu bestimmten Annahmen kommen. Das könnte damit beginnen, dass ich mein Menschenbild oder mein Bild der Gesellschaft hinterfrage. Auch könnte ich als Lernender darüber nachdenken, in welchem System ich mich bewege: 

  • Welche Ansprüche sollte man eigentlich an das Gesundheitssystem stellen? 
  • Was ist meine Rolle als Fachkraft? 
  • Was bedeutet Professionalität für mich? 
  • Wie wichtig ist mir die Eingebundenheit in einer sozialen Gemeinschaft?

Metakognition muss dabei gar nicht immer die großen Themen rund um Gesellschaft und Professionalität bedienen. Auch einzelne Denkprozesse können untersucht werden.

Eine einfache Technik zum Einüben ist das “laute Nachdenken”. Wir kenne es aus Simulationsszenarien, in denen Teilnehmer auch zwischen den einzelnen Team-Time-Outs begründen, was sie tun:

“Ich finde keine Vene und wechsle auf eine i.o.-Punktion.”

So ähnlich können Lernende auch ihre fachlichen Gespräche in einem Lehrgespräch oder einer Kleingruppenarbeit strukturieren:

“Ich gehe davon aus, dass die Patientin mit einer Panikattacke eine starke sympathoadrenerge Reaktion hat. Mein Ziel ist es, diese körperliche Reaktion abzumildern, in dem ich beruhigend auf sie einwirke. Wenn ich selbst Stress verursache, etwa wenn ich meine Fragen zu schnell und zu unstrukturiert stelle, wird sich ihre Reaktion verstärken und sich negativ auf den Einsatz auswirken.”

Andere Lernende erhalten auf diese Weise Zugriff auf die Denkmuster ihrer Umgebung und können diese dann auch konstruktiv kritisieren. Alle Beteiligten haben von daher etwas vom “lauten Denken”. Ein geschützter Raum ist hierfür allerdings eine wichtige Grundvoraussetzung. Zuvor muss Vertrauen aufgebaut werden.

Tipps für die Praxis:

  • Metakognition als Konzept verstehen
    • Metakognition ist “das Nachdenken über das eigene Nachdenken”
    • Lernenden hilft Metakognition zur Beurteilung ihrer Lerninhalte und ihres Lernprozesses
    • Sie lässt sich in zwei Aspekte unterteilen
      • Wissen
      • Überwachung und Selbstregulierung 
  • Es können 4 Stufen der Metakognition unterschieden werden:
    • Tacit Learner (Impliziter Lerner)
    • Aware Learner (Bewusster Lerner)
    • Strategic Learner (Strategischer Lerner)
    • Reflective Learner (Reflektierender Lerner)
  • Für den Anfang
    • Die eigene Position sollte immer bestimmt werden: Wer spricht oder handelt auf welcher Wissens- oder Erfahrungsgrundlage?
    • “Lautes Denken” hilft anderen, metakognitive Überlegungen nachvollziehen zu können.
    • Es braucht unbedingt einen geschützten Raum, in dem alle Lernenden wohlwollend miteinander umgehen.