Schaffe authentische Erfahrungen

Eine Besonderheit der medizinischen Ausbildung ist, dass sie einen unmittelbaren beruflichen Zweck hat. Studiert man etwa Chemie oder Ingenieurswissenschaften ist das Lernumfeld mehr oder weniger abstrakt. Auch wenn man regelmäßig Projekte absolviert oder sich in Arbeitsgruppen einbringt, ist es das Ziel eines solchen Studiums, den Lernenden eine solide Basis für ganz unterschiedliche Arbeitswelten zu ermöglichen. Bei den Berufsausbildungen ist es im Gegensatz zum Studium meist schon etwas konkreter und damit handlungsorientierter. Ein Biologisch-Technischer-Assistent lernt seinen Beruf, um beispielsweise in einem Labor arbeiten zu können. Allerdings ist auch dieses Feld sehr breit, ein Einsatz von Zoologie, über Mikrobiologie bis hin zur Botanik ist möglich. 

Deutlich konkreter ist es bei Rettungsfachpersonal. Es wird für ein extrem enges Arbeitsfeld ausgebildet. Ähnlich ist es im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen für angehende Fachpflegende oder Fachärzt:innen. Zumeist weiß jeder von ihnen sehr genau, wie der eigene Arbeitsplatz organisiert. Das schafft einen tollen Ansatzpunkt für handlungsorientierte Trainingseinheiten. Zur Erinnerung: Handlungskompetenz besteht aus den Kompetenzbereichen: Fach-, Sozial-, Personal- und Methodenkompetenz. Im Vorfeld sollten sich Trainer:innen bewusst werden, welche Kompetenzbereiche in welchem Umfang gefördert werden sollen.

Im Gegensatz zu Personen, die nur eine vage Vorstellung von ihrem Arbeitsumfeld haben, kennen bereits fortgeschrittene Auszubildende bzw. Studierende in Medizin und Rettungsdienst ihren Tätigkeitsbereich sehr genau. Es gibt also zahlreiche Anknüpfungspunkte und Transfermöglichkeiten für nachhaltige Trainings. Allerdings bestehen auch Fallstricke.

Die berufliche Realität

Trainer:innen kennen es: Einige Teilnehmende ziehen sich in einem Training schnell darauf zurück, dass es bei ihnen im Betrieb “alles ganz anders” sei. Das ist zunächst eine absolut legitime Aussage, denn natürlich ist ein gemütlicher Seminarraum mit einer kleinen Kaffee-Bar, in dem eine Puppe auf dem Boden liegt, etwas anderes, als draußen bei Regen eine Reanimation durchzuführen. Auch das Material und die Vorgehensweisen unterscheiden sich möglicherweise sehr stark vom eigenen Betrieb. 

Dennoch sollte man hier als Trainer:in nicht allzu schnell auf diesen Zug aufspringen, denn das, was der Teilnehmer hier sagt, könnte auch einfach heißen: “Ich fühle mich hier nicht wohl.” Dafür braucht es Verständnis. Brücken müssen gebaut werden. Lässt man sich jedoch zu schnell darauf ein, dem Teilnehmer vollständig Recht zu geben, leistet man unter Umständen Beihilfe dabei, ihm den Trainingseffekt zunichtemachen. 

Denn ein Kurs abseits der eigenen Routinen bietet auch zahlreiche Möglichkeiten andere Perspektiven zu entdecken und neue Vorgehensweisen kennen zu lernen. Ladet eure Teilnehmer:innen also aktiv dazu ein, die Übungskünstlichkeit gemeinsam mit euch links liegen zu lassen. Hebt stattdessen die Chancen hervor, die sich den Teilnehmenden hier bieten. 

Eine wichtige Rolle spielt hierbei das Abstraktionsvermögen. Wenn es regelmäßig konstruktiv herausgefördert wird, verbessert dies die Lernleistungen.

Regionale Protokolle

Allerdings sollte man wie bereits erwähnt stets auch Brücken bauen, die man nutzen kann, damit die Teilnehmenden miteinander ins Gespräch kommen und ihre Vorgehensweisen diskutieren. In den meisten Kliniken und Rettungsdienstbereichen gibt es strukturierte Vorgehensweisen zur Behandlung bestimmter Notfallbilder. Es spricht auch in einem standardisierten Kursformat nichts dagegen, diese in den Szenarien einzusetzen. Die American Heart Association verweist in ihren Leitlinien und Kursunterlagen regelmäßig darauf, dass regionale Protokolle eingesetzt werden können. Im Idealfall verfügt man als Trainer:in bereits im Vorfeld über die entsprechenden Dokumente, so dass man sie mit den Leitlinienvorgaben abgleichen und etwaige Unterschiede im Kurs diskutieren kann.

Schwierig wird es, wenn regionale Protokolle fehlerhaft sind, was glücklicherweise nur sehr selten vorkommt, oder sie von den Leitlinien abweichen. Letzteres muss nicht immer falsch sein, sondern kann lokalen Besonderheiten oder einer lediglich schwachen Leitlinienempfehlung geschuldet sein. In diesem Falle hilft Offenheit und Neugier. Findet heraus, wieso die Arbeitsanweisungen der Teilnehmer:innen auf diese Weise gestaltet wurden, ohne sie schlecht zu reden. Als Trainer:in ist man oftmals Gast in fremden Einsatzbereichen und sollte sich mit seiner persönlichen fachlichen Meinung im Zweifel zurückhalten. Die eigene Meinung zu vertreten ist wichtig und notwendig für den fachlichen Austausch, man sollte sie aber niemandem aufzwingen.

Beim Ansprechen kritischer Punkte kann die 3-B-Technik helfen:

  1. Beobachtung
  2. Bewertung
  3. Befragung

Zum Beispiel:

  • Teilt mit, was euch auffällt und seid dabei ganz neutral (Beobachtung):

“Ich sehe, Ihr senkt den Blutdruck bereits ab systolischen Werten von 180 mmHg.”

  • Sagt, was ihr darüber persönlich denkt (Bewertung):

“Ich kenne das so nicht. Meiner Meinung nach, könnte man solche Werte noch tolerieren, solange keine ausgeprägten Symptome bestehen.”

  • Fragt, was der Teilnehmer davon hält:

“Ich bin da neugierig und lerne gerne dazu: Kennst Du den Hintergrund für euer Vorgehen?”

Diese Technik soll ein sachliches Gespräch auf Augenhöhe ermöglichen, in dem man den eigenen Standpunkt vertreten kann, ohne sein Gegenüber in eine Ecke zu drängen. Offen, ehrlich und respektvoll.

Die Methode ist unter anderem Bestandteil unserer “Simulationstrainer BASIC”-Ausbildung und wird dort sehr intensiv geübt.

In-Situ-Simulation

Wir haben bisher darüber geschrieben, wie man im Kurs trotz Handlungsorientierung mit Abstraktion umgehen kann. Je realistischer ein Training angelegt ist, desto weniger Abstraktionsvermögen müssen die Teilnehmenden aufbringen und desto besser kann man auf ihre berufliche Realität eingehen. Die Königsdisziplin sind wohl die sogenannten In-Situ-Simulationen.

In-Situ-Simulationen sind Simulationstrainings in der Arbeitsumgebung der Teilnehmenden. Das kann beispielsweise der Rettungswagen, die Notaufnahme, der Einleitungsraum oder ein Zimmer einer Intensivstation sein. Die Teilnehmenden arbeiten in diesen Fällen mit ihrem eigenen Material, das sie ihren eigenen Schränken entnehmen und verwenden können. Ganz so, als würden sie einen echten Patienten an ihrem Arbeitsplatz versorgen. Es bleiben lediglich einige wenige Simulationsartefakte zurück. Die Teilnehmenden müssen über die verwendete Puppe (oder den eingesetzten Schauspieler) informiert werden:

  • Welche Gefahren bestehen (z.B. durch Kanülen oder elektrischen Strom) und wie beugt man Verletzungen vor?
  • Was kann auf welche Weise untersucht werden?
  • Kann die Kleidung zerschnitten werden?
  • Können EKG-Elektroden aufgeklebt werden?
  • Wo und wie darf man punktieren, schneiden oder andere invasive Maßnahmen ergreifen?
  • Von wem und wie erhält man fehlende Informationen, z.B. zum Pupillenstatus?
  • Etc.

Sind diese Erläuterungen erfolgt, können sich die Teilnehmenden voll auf die Simulation einlassen und dabei sowohl ihre eigenen SOPs als auch die Möglichkeiten ihres Arbeitsplatzes erkunden. Nicht selten führen In-Situ-Simulationen dazu, dass Verbesserungen am Arbeitsplatz erfolgen können. So zum Beispiel könnten Prozesse überarbeitet, Schränke neu sortiert oder die Anordnung von Arbeitsgeräten ergonomischer gestaltet werden.

Im Vorfeld sollten allerdings immer die Ziele festgelegt werden. Ein In-Situ-Training kann nicht alles gleichzeitig abdecken. Oftmals lohnt es sich, in mehreren Schritten vorzugehen und beispielsweise zunächst Prozesse und Ergonomie zu testen, in einem weiteren Training eher den Fortbildungsbedarf der Mitarbeitenden zu ermitteln und im darauf folgenden Training seltene Krankheitsbilder zu trainieren, mit denen erfahrungsgemäß größere Unsicherheit besteht.

Die Anordnung der Schritte ist natürlich ganz unterschiedlich. Bei den durch uns ausgerichteten Simulationstrainings besprechen wir die Vorstellungen und Ziele daher mit jedem Kunden individuell. Auf diese Weise können wir gemeinsam entscheiden, ob ein reguläres Simulationstraining oder In-Situ-Simulationen gewünscht werden und worauf unsere Trainer:innen einen besonderes Augenmerk legen sollten.

Tipps für die Praxis:

  • Handlungsorientiertierung
    • Die Aus- und Fortbildung im medizinischen Bereich eignet sich hervorragend für handlungsorientierten Unterricht.
    • Handlungskompetenz besteht aus den Kompetenzbereichen: Fach-, Sozial-, Personal- und Methodenkompetenz
    • Lehrende sollten im Vorfeld festlegen, welche Kompetenzbereiche sie in welchem Umfang bedienen wollen
  • Abstraktionsvermögen
    • Manche Teilnehmer:innen ziehen sich auf den Umstand zurück, dass bei ihnen anders gearbeitet werde, als im Training.
    • Das ist im Regelfall wahr und nur allzu verständlich.
    • Dennoch sollten sie dazu aufgefordert werden, sich auf die Vorgehensweise im Training einzulassen.
    • Ein höheres Abstraktionsvermögen geht mit besseren Lernergebnissen einher.
  • Regionale Protokolle
    • Regionale Vorgehensweisen können in Trainings berücksichtigt werden.
    • Das lassen auch die meisten Leitlinien in einem relativ großen Umfang zu.
    • Konflikte zwischen regionalen Protokollen und Leitlinienaussagen sollten ehrlich und konstruktiv angesprochen werden.
    • Dabei kann die 3-B-Fragetechnik helfen.
  • In-Situ-Simulationen
    • In-Situ-Simulationen finden in der wirklichen Arbeitsumgebung (z.B. im Schockraum oder im Rettungswagen) statt.
    • Es sollte immer eine sehr gründliche Familiarisierung erfolgen, um Gefahren vorzubeugen und die Simulation möglichst realistisch ablaufen lassen zu können.
    • Bei In-Situ-Simulationen können unter anderem SOPs und die Anordnung von Arbeitsgeräten in einem sicheren Umfeld getestet werden.
    • Jedes Training muss individuell besprochen werden.