Seit vielen Jahren rücken Leitlinien sowohl in der Ausbildung als auch in der (außer-)klinischen Praxis immer mehr in den Vordergrund. Medizinisches Wissen wird durch sie sortiert, gebündelt, analysiert und für die Arbeit mit unseren Patienten übersichtlich zur Verfügung gestellt.
In Deutschland erscheinen Leitlinien in der Regel gemäß den Vorgaben der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.), die aktuell 179 medizinische Fachgesellschaften bündelt. Die AWMF vertritt Deutschland im Council for International Organizations of Medical Sciences (CIOMS).
Infokasten AWMF-Evidenzklassen
- S1: Eine Expertengruppe hat einen einen informellen Konsens erarbeitet
- S2k: Eine formale Konsensfindung wurde durchgeführt
- S2e: Eine systematische Evidenz-Recherche ist erfolgt
- S3: Alle Elemente einer systematischen Entwicklung wurden durchlaufen. Höchste Evidenzstufe
Die Entwicklung von Leitlinien ist international natürlich leicht unterschiedlich, folgt aber immer dem klassischen Prinzip wissenschaftlicher Beweisführung. Im Folgenden möchten wir, pünktlich zum Reanimationsleitlinienupdate am 21. Oktober 2020, den Arbeitsprozess der American Heart Association (AHA) vorstellen.
Die AHA blickt auf eine lange Publikationstradition zurück. Die erste Veröffentlichung „A Nomenclature for Cardiac Diagnosis“ erschien im Jahr 1926 und trug dazu bei, medizinische Forschung und Patientenversorgung einheitlicher zu gestalten.
Wenn die AHA heute eine Leitlinie plant, wird zunächst ein “Oversight Commitee” einberufen. Diese Gruppe besteht aus freiwilligen Experten, deren Aufgabe es ist, die wesentlichen Fragestellungen zu einem Thema herauszuarbeiten. Auch wird durch sie das “Writing Commitee” ernannt. Diese zweite Gruppe von Experten besteht nicht selten aus einigen Dutzend Personen, die ihr Fachwissen ebenfalls unbezahlt zur Verfügung stellen, um auf diesem Wege die Patientenversorgung zu verbessern.
„Being involved in guidelines, you’re touching thousands and thousands of patients.“
Dr. Robert Bonow, früherer AHA-Präsident und Professor für Kardiologie in Chicago
Der Schreibprozess läuft nach strengen Regeln ab und folgt einer genau festgelegten Vorgehensweise. Etwaige Interessenkonflikte müssen von allen Autoren offengelegt werden. Bei Vorsitzenden eines “Writing Committee” dürfen keine Interessenkonflikte vorliegen. Im Falle von Präventionsleitlinien gilt dies auch für jedes einzelne Mitglied.
Das “Writing Committee” sammelt nun systematisch den vorhandenen Forschungsbestand, oft hunderte von Einzelstudien. Im Anschluss daran werden diese Studien gesichtet und nach ihrer Qualität beurteilt. Handwerklich gute Studien, die alle Qualitätskritieren erfüllen, werden in die weitere Arbeit mit einbezogen. Studien mit fragwürdiger Methodik werden aussortiert. Aus dem nun vorliegenden Material werden Empfehlungen abgeleitet und in den Leitlinientext eingearbeitet. Die AHA benutzt zur Gruppierung der Empfehlungen ein spezielles Schema.
Empfehlungssystem der AHA
Level of Evidence:
Die Qualität der Aussagen wird beurteilt und in die Stufen A, B und C sortiert:
- A – Hohe Evidenz aus mehreren randomisiert-kontrollierten Studien
- B-R – Mittlere Evidenz aus mindestens einer randomisiert-kontrollierten Studie („Randomized“)
- B-NR – Mittlere Evidenz aus mindestens einer nicht-randomisierten Studie („Nonrandomized“)
- C-LD – z.B. Beobachtungs- oder Registerstudie („Low data“)
- C-EO – Expertenkonsens („Expert opinion“)
Class of Recommendation:
Die Stärke der Empfehlungen wird in die Stufen I-III eingeteilt:
- I – Starke Empfehlung (Nutzen >>> Risiko)
- IIa – Mittlere Empfehlung (Nutzen >> Risiko)
- IIb – Schwache Empfehlung (Nutzen > oder = Risiko)
- III – Moderate Ablehnung (Nutzen = Risiko)
- III – Starke Ablehnung (Nutzen < Risiko)
Nach dieser Schreibphase wird der Leitlinienentwurf nicht direkt veröffentlicht. Stattdessen schließt sich das sogenannte “Peer-Review”-Verfahren an.
Zahlreiche Experten, die nicht im “Writing Commitee” waren, lesen dann den Entwurf und geben fachliche Anmerkungen ab, die für die Endversion der Leitlinie Beachtung finden müssen. Laut Dr. Alice Jakobs, einer interventionellen Kardiologin und früheren Präsidentin der AHA, kommen dabei nicht selten mehrere hundert oder tausend Kommentare zusammen, die durch das “Writing Commitee” ausgewertet und gegebenenfalls eingearbeitet werden müssen.
Erst dann ist die Leitlinie bereit zur Veröffentlichung. Aus diesem Grunde kann es mitunter mehrere Jahre dauern, bis eine neue Leitlinie erscheint.
Auch nachdem eine Leitlinie veröffentlicht wurde, wird weiter am betreffenden Thema und der Anwendbarkeit der Leitlinie geforscht. Auf diesem Wege soll ein kreislaufartiger, kontinuierlicher Verbesserungsprozess gefördert werden.
Dieser Beitrag basiert unter anderem auf einem Beitrag der American Heart Association, den Ihr hier findet.