Beachte die soziale Natur des Lernens

Eigentlich könnte dies der kürzeste Beitrag unserer Reihe zu, “Jahr des Trainings” sein, denn das Lernen etwas Soziales ist, ist wohl jedem von uns bewusst. 

Erinnern wir uns etwa an unsere Schulzeit zurück, fallen uns zehnmal mehr unterhaltsame, tragische oder aufregende soziale Situationen ein, als Unterrichtsstunden zu Personalpronomen, Vulkanismus oder Integralrechnung. Auch wenn Gruppenarbeiten damals sicherlich nicht immer unsere Lieblingssozialform waren, ist sicherlich jedem von uns noch im Gedächtnis, wie gut es vor einer mündlichen Prüfung tat, sich von einem Freund oder einer Freundin abfragen zu lassen oder wie es sich angefühlt hat, Dinge auf einmal noch besser zu verstehen, nachdem man sie jemand anderem erklärt hat. 

Soziale Situationen sind fantastische Lernverstärker!

Besonders eindrücklich wird ihre Wirksamkeit, wenn Kinder aus einem herausfordernden sozialen Umfeld in eine gut organisierte und gemeinwohlorientierte Schule kommen. Viele von ihnen blühen trotz der schwierigen Startvoraussetzungen auf und erreichen Ziele, die sie ohne die Gemeinschaft mit  Lehrenden und Mitschüler:innen nicht erreicht hätten.

Und natürlich sind die lernverstärkenden sozialen Effekte auch bei Erwachsenen weiterhin nachweisbar. Über ihre Mechanismen erlernen und verbessern wir:

  • Gemeinsame Werte
  • Teamarbeit
  • Konfliktfähigkeit
  • Verantwortungsgefühl
  • Fachliche Perspektivwechsel
  • Selbstwirksamkeitsgefühl
  • und vieles mehr

Dieser Artikel könnte also der kürzeste der Reihe sein, oder aber der längste – denn es gäbe so viel zu erzählen.

Im Folgenden möchten wir drei besonders wichtige Aspekte hervorheben:

  • Nichts geht über gute Vorbilder
  • Teams brauchen Teamplayer
  • Auch Pausen sind zum (sozialen) Lernen da

Nichts geht über gute Vorbilder

Neben kognitiven, konstruktivistischen und behavioralen Ansätzen stellt das Modelllernen eine der wichtigsten Lerntheorien dar. Es wurde in den 1970er Jahren von Albert Bandura erstmals systematisch beschrieben. Natürlich gab es diese “Modelle” in Form von Vorbildern schon viele Jahrtausende. Die berühmtesten Komponistinnen, Maler oder Politikerinnen konnten oft sehr genau benennen, wer sie in ihrer Art und Weise zu Denken und zu Handeln geprägt hat. 

Das Charmante am Modelllernen ist, dass es auch innerhalb der anderen Lerntheorien gedacht werden kann. Es beschreibt eine Beobachtung und kann zur Erklärung dieser Beobachtung die verschiedene Erklärungsmodelle (z.B. kognitive oder behavioristische Theorien) heranziehen.

Bandura unterscheidet Modell und Beobachter. Das Modell könnte beispielsweise ein erfahrener Kollege im Rettungsdienst sein, der nach einer Alarmierung auf den Melder schaut und daraufhin sagt: “Wieder so ein Blödsinns-Einsatz!” Der Beobachter könnte ein Auszubildender sein, in dessen Kopf nun eine Bewertung erfolgt:

  • Je nachdem, welche Reaktion auf die Handlung des Modells erfolgt, wird sie als nachahmenswert oder nicht-nachahmenswert eingespeichert.
  • Wird der erfahrene Rettungsdienstler von seinen Kollegen in dieser Äußerung bestärkt, könnte der Auszubildende annehmen, dass sein Verhalten mit einer hohen sozialen Anerkennung einhergeht.
  • Wird seiner Äußerung kritisch begegnet, könnte es sein, dass der Auszubildende die Handlung als nicht-nachahmenswert empfindet.

Dabei spielt natürlich auch das Verhältnis zwischen dem erfahrenen Kollegen und dem Auszubildenden eine wichtige Rolle. Wir alle kennen es: Wir ergreifen eher Partei für Menschen, die uns emotional nahe stehen, als für Menschen, denen wir skeptisch gegenüberstehen.

Ganz allgemein gesprochen, lassen sich hier zwei Phasen mit je zwei untergeordneten Phasen unterrscheiden:

  1. Aneignungsphase
    • a. Aufmerksamkeitszuwendung
    • b. Behaltensphase
  2. Ausführungsphase
    • a. Motorische Reproduktionsphase
    • b. Verstärkungs- und Motivationsphase

Das Durchlaufen dieser Phasen kann in vier verschiedenen Effekte münden:

  • Modellierender Lerneffekt = Eine neue Verhaltensweise wird erlernt
  • Enthemmender Effekt = Verstärkung einer bereits bekannten Verhaltensweise
  • Hemmender Effekt = Hemmung einer bereits bekannten Verhaltensweise
  • Auslösender Lerneffekt = Die Verhaltensweise wird (unmittelbar) nachgeahmt

Neben der emotionalen Nähe zum Modell spielen unter anderem auch die Häufigkeit der Beobachtung und die Stärke der Konsequenz eine wichtige Rolle.

Möchte ich als Lehrender bestimmte Verhaltensweisen fördern, sollte ich zum einen selbst vorbildlich handeln und zum anderen auf ungeeignete Modellsituationen angemessen reagieren. Das muss nicht unbedingt durch harte soziale Sanktionen erfolgen, sondern können auch kleine, wohlmeinende und höfliche Korrekturen sein. 

Im geschilderten Falle könnte folgende Antwort aus dem Kollegium einen sehr konstruktiven hemmende Einfluss haben: “Oh, kann ich gut verstehen. So eine Meldung hatten wir neulich auch und haben uns erst ziemlich geärgert. Dahinter steckte dann aber doch ein Schlaganfall. Erzählt später mal, wie es war. Wir kochen inzwischen frischen Kaffee, wenn es uns nicht auch gleich erwischt.”

Teams brauchen Teamplayer

Ein zunehmend zentrales Thema in der Ausbildung von medizinischen Fachkräften, vor allem in Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin, ist das “Crew Resource Management”. Hierbei wird der Fokus von der individuellen Fachkompetenz auf die gruppendynamischen Prozesse gelenkt. Auf diesem Wege sollen Fehler vermieden oder zumindest im Nachgang analysiert werden können.

Die Grundlage für ein wirklich gelebtes CRM ist ein funktionierendes soziales Miteinander. Das ist mitunter relativ schwierig, da gerade im Bereich der Notfallversorgung viele Ad-Hoc-Teams entstehen, die sich kaum kennen und mitunter noch nie zusammengearbeitet haben. Aus diesem Grunde braucht es gezielte Fähigkeiten zur Förderung von Teamentstehung, Teamzusammenarbeit und gemeinsamer Reflektion. Das schöne ist, dass sich diese Fähigkeiten auch in Trainings entwickeln lassen und mit den Teilnehmenden regelmäßig auf einer metakognitiven Ebene (Tipp 12 dieser Artikelreihe) wiederholt werden können.

Teamarbeit lässt sich nach dem amerikanischen Psychologen Bruce Tuckman in 5 Phasen unterteilen. Diese können wir mit verschiedenen Techniken in konstruktiv beeinflussen:

Phase
Beschreibung
Förderliche Techniken*
Forming– Die Gruppe kommt zusammen. 
– Die einzelnen Gruppenmitglieder bewerten einander bereits früh. 
– Sie handeln allerdings relativ unabhängig voneinander.
– Erste Ideen zum Ziel der Zusammenarbeit sind bereits vorhanden.
– Gegenseitige Vorstellung mit Namen und Funktion
-Bestärkende Botschaften (“Danke fürs kommen!”)
Storming– Es kommt in dieser Phase oftmals zu den ersten Konflikten.
– Die Gruppenmitglieder setzen unterschiedliche Prioritäten und agieren teilweise in gegensätzliche Richtung.
– Gleichzeitig kommt es zu ersten Verständigungen über die Zusammenarbeit.
– Es braucht ein gemeinsames Ziel – unbedingt so früh wie möglich festlegen.
– Etwaige Konflikte, direkt adressieren (“Mein Eindruck ist, dass es mehrere unterschiedliche Ziele gibt.
– Wollen wir uns kurz auf ein gemeinsames Vorgehen einigen?”)Lösungsvorschläge anbieten, die zu Win-Win-Situationen führen.
– Freundlich und aufgeschlossen bleiben: Alle haben Stress.
Norming– Die Gruppe legt ihre Handlungsziele endgültig fest.
– Auch wird die gemeinsame Vorgehensweise vereinbart.
– Ziele und Vorgehensweisen laut benennen
– Rollen klar verteilen.
Performing– Das Team arbeitet als Gruppe zusammen– Rückversichernde Kommunikation
– Regelmäßige Reevaluationen der Situationen
– Gegenseitiges Ansprechen mit Namen 
Adjourning– Diese Phase spielt nicht bei allen Teams eine Rolle.
– Bei länger zusammenarbeitenden Gruppen ist sie sehr wichtig, da eine Auflösung des Teams teilweise mit Traurigkeit und anderen negativen Gefühlen einhergeht.
– In notfallmedizinischen Teams bietet diese Phase eine Chance zur kollegialen Verabschiedung und zur Nachbesprechung
– Gegenseitige Anerkennung und Dank ausdrücken (Man sieht sich immer mehrmals im Leben.)
– Kritische Ereignisse nachbesprechen.
– Besonders positive Ereignisse nachbesprechen.
– Kontaktinformationen können bei Bedarf ausgetauscht werden, z.B. um sich über den Patientenzustand zu informieren.

*Da die Phasen ineinander übergehen, sollten die Tipps nicht als trennscharf verstanden werden. Natürlich hilft ein “freundliches und aufgeschlossenes Auftreten” auch in anderen Phasen als dem “Storming”.


Diese Regeln spielen auch in Lern-Lehr-Arrangements eine Rolle, denn die Kurse an sich sind bereits Gruppen (“Teams”), in denen sich, etwa im praktischen Szenarientraining, ständig neue, kleinere Teams bilden. Werden die oben genannten oder ähnliche Vorschläge zur konstruktiven Beeinflussung der Gruppendynamik immer wieder betont, können diese von allen Teilnehmenden nach und nach internalisiert und mit in die praktische Arbeit genommen werden.

Auch Pausen sind zum (sozialen) Lernen da

Jeder Lehrende sollte regelmäßige Pausen einplanen und dann vor allem auch konsequent umsetzen. Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass es Entspannungsphasen für Sortiervorgänge nutzt. Während wir also unseren Mittagssnack essen und uns mit anderen Lernenden austauschen, verarbeitet unser Gehirn unbewusst unablässig die gesammelten Eindrücke. Das ermöglicht es, erholt und aufnahmebereit in die nächste Lerneinheit zu starten.

 Hierbei können als Richtwerte gelten:

  • Alle 20-30 Minuten: Mini-Pause von 30 Sekunden bis 1 Minute (können durch Methodenwechsel erfolgen, aber auch explizit angekündigt sein)
  • Alle 45-60 Minuten: Kurzpause von 5-10 Minuten
  • Alle 90-120 Minuten: Midi-Pause von 15-25 Minuten (z.B. fürs Frühstück)
  • Spätestens nach 240 Minuten: Größere Pause von 30-45 Minuten

Insbesondere die letzten drei genannten Pausentypen sollten auch als soziale Pausen verstanden werden. Die Teilnehmenden können sich hier untereinander austauschen und miteinander lachen (oder fluchen). Wichtig ist, dass diese Pausen weitestgehend frei vom Unterrichtsstoff sind und vielleicht sogar ein wenig Bewegung enthalten. 

Auch als Lehrender hat man selbstverständlich ein Recht auf eine gemütliche Pause. Man sollte jedoch bedenken, dass gerade die längeren Pausen gezielt moderiert werden können, um die Teilnehmenden als Gruppe zusammen zu schweißen und so den Lernerfolg der Gruppe zu erhöhen.

Das kann beispielsweise durch gezielt angeregte Gespräche zwischen den Teilnehmenden erfolgen. Diese müssen nichts mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff zu tun haben, sondern können an unser Vorwissen anknüpfen.

Zum Beispiel:
“Luisa und ich haben uns neulich schon auf einem Symposium unterhalten. Kennt Ihr Euch eigentlich? Sie hat mal im selben Landkreis gearbeitet, wie Du.”

Tipps für die Praxis:

  • Soziale Situationen sind Lernverstärker
    1. – Baue gezielt sozialen Austausch in Deinen Unterricht ein
    2. Arbeite hier mit Emotionen
  • Menschen lernen am Modell
    1. – Beim Modelllernen gibt es Modelle, Beobachter und Verstärker
    2. – Achte darauf, dass die richtigen Verhaltensweisen bei Modellen (etwa die Anlage eines EKG) konstruktiv verstärkt werden, damit die Beobachter die richtigen Schlüsse daraus ziehen.
    3. – Sei selbst ein gutes Modell.
  • Fördere Teamarbeit
    1. – Kurse und Unterrichtsstunden bieten die einmalige Chance, dass Menschen bei der Zusammenarbeit gezielt gefördert werden können.
    2. – Habe die Phasen der Teambildung im Hinterkopf: Forming, Storming, Norming, Performing und Adjourning
    3. – Interveniere in den jeweiligen Phasen mit den richtigen Techniken.
    1. – Arbeite hierbei auch auf der Meta-Ebene. Die Kursteilnehmer dürfen ruhig wissen, in welcher Phase sich ihre Gruppe befindet und wie ihre – Zusammenarbeit gestärkt werden kann.
  • Organisiere die Pausen
    1. – Widerstehe dem Drang, auf Pausen zu verzichten.
    2. – Sei konsequent bei der Umsetzung der Pausen. Sie sollten nicht unnötig in die Länge gezogen werden. Im Zweifel müssen mit den Gruppen individuelle Pausenlängen vereinbart werden.
    3. – Sorge in den Pausen dafür, dass die Gruppenbildung voranschreitet. Beobachte genau und überlege, wann eine Intervention sinnvoll sein könnte und wann sich die Gruppe bereits sehr gut selbst organisiert.