Nutze Wiederholungen

Das Lernen vor allem auch aus Wiederholung besteht, wissen Menschen vermutlich seit Jahrtausenden. Gelehrte aller Religionen verbrachten schon weit vor unserer Zeitrechnung damit, die religiösen Texte zu studieren und sie in weiten Teilen auswendig zu lernen. Diese alten Traditionen leben noch heute weiter. Orthodoxe Juden studieren und diskutieren die Tora auf diese Weise täglich in ihren Yeshiwas und Muslime, die den Koran vollständig auswendig kennen, werden respektvoll als Hafiz bezeichnet.

Und auch wissenschaftlich ist die Notwendigkeit von Wiederholungen spätestens seit der Beschreibung der Vergessenskurve durch Hermann Ebbinghausen unbestritten. Seine Forschungsmethoden legten den Grundstein für die systematische Kognitionspsychologie. Für seine Selbstexperimente hängte er verschiedene Silben sinnlos aneinander und notierte sich genau, wie lange er sie nach dem Lernen der Silbenkombinationen noch wiedergeben konnte. Dabei stellte er fest, dass er bereits nach 20 Minuten nur noch 60% des Gelernten wiedergeben konnte. Ebbinghausens Versuche stehen insbesondere in der modernen Experimentalpsychologie vor allem aus methodischen Gründen in der Kritik, allerdings gilt eine seiner Grundannahmen, nämlich, dass Wiederholung das Erinnern von Lerninhalten fördert, als sicher belegt.

Diesen Umstand kann und sollte man auch in (notfall-)medizinischen Trainings nutzen. Typische medizinische Fortbildungen finden jährlich oder nur alle paar Jahre statt. Sie werden meistens in Form von tagesfüllenden oder mehrtägigen Seminaren abgehalten und vermitteln nicht selten eine große Menge an Wissen und Fertigkeiten. Wenn die jeweiligen Trainingsinhalte in der täglichen Arbeitspraxis wiederholt werden können, bleiben sie oftmals langfristig erhalten. So wird eine Teilnehmerin eines BGA-Seminars, die jeden Tag mehrere BGAs auswertet, regelmäßig alle vermittelten Inhalte wiederholen, festigen und durch ihre beruflichen Erfahrungen sogar noch erweitern. Schwieriger wird es jedoch bei seltenen Ereignissen. So kann das zweijährlich stattfindende Verkehrsunfalltraining möglicherweise die einzige Situation in diesem Zeitraum sein, in der notfallmedizinisches Personal die Versorgung eines Patienten im Innenraum eines PKW übt. Das zuletzt gewählte Beispiel lässt sich ohne weiteres auf viele seltene Notfallsituationen übertragen: Die Erkennung und Behandlung einer Lungenembolie, die Notfallnarkose bei einem kreislaufinstabilen Patienten, die Reanimation einer Schwangeren.

Formen des Trainings

Um auch nicht-alltägliche Notfallbilder sicher versorgen zu können, wird nachhaltiges Training benötigt und eben diese Nachhaltigkeit steigt mit der Häufigkeit des Trainings an. Je nach Definition und Quelle können verschiedene Formen des Trainings unterschieden werden. Eine sehr pragmatische und daher empfehlenswerte Einteilung ist folgende:

  • Grundausbildung (Initial Training / Provider Training)
  • Erhaltungstraining (Maintenance Training)
  • Verstärkungstraining (Booster Training)
  • Auffrischungstraining (Refresher Training)

Das Ziel einer Grundausbildung ist es, die Teilnehmenden mit bestimmten Denk- und Verhaltensmustern zu konfrontieren und sie ihnen zur Lösung beruflicher Situationen anzubieten. So empfinden viele Teilnehmer:innen die gezielte Steuerung und Nutzung der Teamdynamik im Rahmen von ACLS-Trainings als sehr angenehm, da sie oftmals negative Vorerfahrungen mit unkoordinierten Teams in Notfallsituationen gesammelt haben. Grundausbildungen sind, je nach Themensetzung und inhaltlicher Dichte, sehr umfangreich. Die Inhalte sollten alle paar Jahre in Form eines Auffrischungstrainings wiederholt werden, um neue Vorgaben und Methoden kennen zu lernen. Das Problem ist allerdings der Zeitraum zwischen Grundausbildung und Auffrischungstraining, denn schlimmstenfalls ist das in der Grundausbildung erlangte Trainingsniveau verloren gegangen. Hier setzen Erhaltungs- und Verstärkungstraining an.

Erhaltungstraining (Maintenance Training)

Maintenance Training zeichnet sich dadurch aus, dass es in einer relativ hohen Frequenz, aber mit einer niedrigen Intensität stattfindet. Kleine und verteilte Lerneinheiten, die nur als einzelnen Aufgaben, etwa der korrekten Durchführung von Thoraxkompressionen, bestehen können, sorgen dafür, dass die Teilnehmer des Trainingsprogramms dauerhaft auf einem hohen Kompetenzniveau gehalten werden. In der täglichen Praxis muss das jedoch gut vorbereitet sein und es muss einen Anreiz für das Personal geben, die Trainingseinheiten durchzuführen. Anreizsysteme sind schwer zu entwickeln, da sie im Idealfall intrinsisch funktionieren. Basieren sie auf extrinsischen Faktoren, etwa einem Bonussystem, muss die Einhaltung der Vorgaben deutlich strenger kontrolliert werden. Idealerweise sollte für Maintenance Training also eine Einbettung in die tägliche Arbeitspraxis stattfinden. So könnten die kleinen Lerneinheiten in die Dienstübergabe integriert werden oder es könnte mehrere feste Tage festgelegt werden, an denen ein begleitetes Training während des Dienstes stattfinden kann. Gemeinsame Erfolge bei der Arbeit wirken ungemein motivierend auf das gesamte Team. Wichtig ist hierbei, dass das Training kurz, fokussiert und häufig sein muss. Wenige Minuten reichen aus.

Verstärkungstraining (Booster Training)

Booster Training findet weniger häufig als Erhaltungstraining statt. Das Kompetenzniveau der Teilnehmer:innen, das in der Grundausbildung entwickelt wurde, ist bereits weiter abgefallen. Dementsprechend müssen die Trainingseinheiten etwas umfassender und daher besser geplant sein. Hier bietet es sich an, feste Tage in den Dienstplan zu integrieren, an denen betreute Lernstationen aufgebaut sind, mit denen die Teilnehmer:innen gezielt fortgebildet werden können. Die Trainingsintensität ist höher als beim Erhaltungstraining und es sollte sich mehr Zeit genommen werden. So könnte Beispielsweise eine halbe bis eine Stunde Airwaymanagement trainiert werden, um die Fertigkeiten des Personals “zu boostern”. Auch ein “Just-in-time-Training” ist möglich. Hierbei handelt es sich um das Üben eines Prozesses oder einer Prozedur, direkt bevor diese angewendet wird. Dies kann mitunter auch rein verbal in Form einer gemeinsamen Wiederholung der wichtigsten Arbeitsschritte auf der Anfahrt zum Einsatzort oder vor Eintreffen eines Patienten im Schockraum durchgeführt werden.

Die Trainingsformen im Überblick

Framework für verschiedene Trainingstypen (Modifiziert nach Sullivan)
TrainingstypKompetenzlevel vor dem TrainingHäufigkeitIntensität
GrundausbildungNicht vorhanden oder geringEinmaligAm höchsten
ErhaltungstrainingHochHäufigNiedrig
VerstärkungstrainingRelevant gesunkenGelegentlichHoch
AuffrischungstrainingVerloren oder geringBei BedarfSehr hoch

In dieser Tabelle findet sich ein Framework, um die verschiedenen Trainingsformen untereinander abgrenzen zu können. Es basiert auf folgendem Artikel: Sullivan A  (2019) Acquiring and Maintaining Technical Skills Using Simulation: Initial, Maintenance, Booster, and Refresher Training; Cureus 11(9); DOI:10.7759/cureus.5729

Es muss darauf geachtet werden, dass die Angaben in dieser Tabelle nur holzschnittartig sind. Insbesondere das “Kompetenzlevel” muss als Begriff kritisch hinterfragt werden. Es ist gut möglich, dass eine trainierte Fachkraft ihre Fähigkeiten in bestimmten Kompetenzbereichen durch ein Erhaltungs- oder Verstärkungstraining aufrecht erhält, während sie sie in anderen Bereichen verliert. Beispielsweise könnte es sein, dass die Grundlagen des BLS so gut verinnerlicht wurden, dass sie nahezu fehlerfrei angerufen werden können, während die korrekte Befundung eines EKG im ROSC wiederholt werden sollte. Dennoch bietet die Tabelle eine gute Übersicht, um Trainings innerhalb von High-Risk-Organisationen zu planen

Wie sieht es mit der Evidenz aus?

Forschung im Bereich von Training und Lehre ist nicht ganz einfach. Oftmals sind die zu messenden Effekten in Trainings so umfangreich und komplex, dass man sie in einer Analyse nicht gut abbilden kann. Von daher werden hier Beispiele genutzt, die einzelne Aspekte untersuchen. So konnte in den “General pediatric wards at Children’s Hospital of Philadelphia” gezeigt werden, dass sich die Qualität einer CPR in Bezug auf Drucktiefe, Druckfrequenz und Gesamtperformance durch ein Booster-Training deutlich verbessern konnte:

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3717252/

Eine andere Arbeit zeigt auf, dass auch ein kurzes Training praktischer Fertigkeiten, wie einer Lumbalpunktion, zu einer kurzfristig hohen Erfolgsrate und zu einer höheren Selbstsicherheit führt, welche mit zunehmender Zeit allerdings wieder abfallen:

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8370503/

Im nächsten Artikel beschäftigen wir uns mit der Frage, wie oft Training stattfinden sollte, um Kompetenzen langfristig aufbauen und erhalten zu können.

Tipps für die Praxis:

  • Gute Planung ist alles
    • Es ist sinnvoll, konkret zu planen, welche Grundfertigkeiten erlernt und erhalten werden sollen
    • Dazu müssen eine Grundausbildung und Wiederholungsmöglichkeiten festgelegt werden
  • Verschiedene Wiederholungstrainings nutzen
    • Erhaltungstraining (Maintenance Training) wird oft durchgeführt und ist weniger intensiv
    • Verstärkungstraining (Booster Training) kann etwas seltener durchgeführt werden, ist dafür aber intensiver
    • Auffrischungstrainings (Refresher Trainings) sollten in die langfristige Planung mit einbezogen werden. Sie dienen dem Wiedererlangen verlorener Fertigkeiten und bieten die Möglichkeit, Neuerungen und Updates tiefer zu verankern.
  • Weniger ist mehr
    • Grade zu Anfang sollte man lieber öfter trainieren, dafür aber relativ einfache Aufgaben wählen (z.B. das Vorbereiten eines Perfusors oder die Durchführung von Thoraxkompressionen)
    • Nach und nach kann man den Komplexitätsgrad der Trainingseinheiten steigern